Ernst Stadler 11. August 1883 – Gefallen am 30. Oktober 1914
Drängend dem Leben genaht
Der Dichter Ernst Stadler, gefallen 1914
Ernst Stadler, geboren am 11. August 1883 in Colmar, gefallen am 30. Oktober 1914 bei Zandvoorde nahe Ypern, gehörte zur künstlerischen Avantgarde, die vor einhundert Jahren in den Kampf zog und einen hohen Blutzoll entrichtete.
Aufgewachsen im Bewusstsein der elsässischen Heimat und ihrer Geschichte, bemüht um die kulturelle Traditionen des Grenzlandes, um neue Akzente und eine transnationale Begegnung, machte er sich als ausgezeichneter Kenner und Übersetzer französischer Literatur unter anderem um die kongeniale Verdeutschung der Werke Charles Péguys verdient.
Der französische Dichter stand wie Stadler an der Front, fiel am 5. September 1914 vor dem Beginn der Marneschlacht. Von trauriger Ironie des Schicksals, ja sogar Zynismus, muss man sprechen, dass auch Stadler auf dem Schlachtfeld in Flandern a der deutsch – französischen Front bleib, getroffen von einer englischen Granate. Am 5. September 2014 wird in Straßburg die Ausstellung „1914 Der Tod der Dichter“ eröffnet und sich bis zum 7. Dezember mit Péguy, Stadler und Wilfred Owen (britischer Dichter, gefallen am 4. November 1918) beschäftigen.
„Einmal schon haben Fanfaren mein ungeduldiges Herz blutig gerissen ...“ So beginnt Stadler sein in Langzeilen verfasstes Gedicht „Der Aufbruch“, das titelgebend für die 1914 erschienene Sammlung wurde und genauso gut für die ganze Epoche des Expressionismus hätte werden können. Stadlers Name aber ist heute kaum mehr ein Begriff, höchstens dieses Gedicht (oder die „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht“) begegnet aufmerksamen Lesern in manchen Anthologien.
„Dann plötzlich stand Leben stille“
Doch „ein Dichter, der mit solcher Sicherheit den Puls seiner Zeit erspürte und ihrer Spannung so prägnant künstlerischen Ausdruck zu geben vermochte, verdient Beachtung und Würdigung“, findet der Literaturwissenschaftler und Expressionismus – Forscher Prof. Heinz Rölleke.
Stadler hatte Germanistik und Romantik in Straßburg, München und Oxford studiert, habilitierte sich 25-jährig mit einer Arbeit über Wielands Shakespeare – Übersetzung, trat 1910 eine Dozentur an der Universität in Straßburg an, wurde 1912 außerordentlicher Professor an der Universität Libre in Brüssel und war sich mit der Universität Toronto 1914 über einen Lehrauftrag einig geworden. Am 12. Mai 1914 schrieb er aus Brüssel an Sir Robert Falconer, Direktor der Universität Toronto, er werde „am 3. oder 4. September Europa verlassen. Das wird, wie ich hoffe früh genug sein, um alles Nötige für den Beginn meiner Arbeit in Toronto vorzubereiten.“ Am ersten Tag der Mobilmachung, am 1. August 1914, wurde Stadler einberufen.
Der Schriftsteller Kasimir Edschmid erinnerte sich („In Memori – an Ernst Stadler„), „Vor diese Wege, die halb getan waren, fast vor der Vollendung standen und wieder schrankenlos lockend vor ihm lagen, schob sich der Schatten des Kriegs, von dem ich ihn lachend wegzuwenden suchte. Es ragte nicht, dass er an ihn glaube, aber eine böse Spannung hielt ihn vibrierend fest und peinigte ihn innerlich. Er freute sich auf seine noch nicht erschienenen neuübertragenen Verse des Francis Jammes, aber in sein Lächeln fiel wieder die Sorge um die noch nicht ganz vollendete graue Uniform.“
„Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen“
Schon als Gymnasiast hatte sich Ernst Stadler, Sohn eines katholischen Vaters, und einer evangelischen Mutter, der Dichtung verschrieben. Ab 1901 versucht er, seine früheren Werke zu publizieren, wendet sich hierfür an Zeitschriften, durchaus mit Erfolg. Beeinflusst wird er zu dieser Zeit stark von Friedrich Lienhard, dem Protagonisten der elsässischen Heimatkunst. Das zeigt sich besonders im anfänglich volksliedhaften Ton seiner Lyrik, thematisch in der von Lienhards „Nordlandliedern“ (1898) angeregten Nordlandromantik. Von der Beschäftigung mit der nordischen Mythologie zeugt Stadlers umfangreiche „Baldur“ - Dichtung, in der er den germanistischen Lichtgott in Beziehung zu Jesus Christus setzt. Den Kontrast zwischen Natur und Großstadt, zwischen Idealismus und zivilisatorischem Fortschritt, entlehnt Stadler ebenfalls bei Lienhard.
Spätestens ab 1902 findet er in Nietzsche, insbesondere im „Zarathustra“, ein Vorbild, wie der ganze Kreis der jungen Dichter um René Schickele und seine Literaturzeitschrift „Der Stürmer“ (keinesfalls zu verwechseln mit der NS-Hetzschrift) in Nietzsche einen lyrischen Erwecker sah. Die kurzlebige Halbmonatsschrift wurde von Stadler und Otto Flake mit herausgegeben. Redaktionelle Treffen fanden in einem alten Turm am Fluss Ill statt. „Ein jugendlicher Hang zum außerstädtischen, antibürgerlichen, zum freien, natürlichen, romantisch verbrämten Leben, wie er sich ähnlich in der gleichzeitigen Jugendbewegung prononciert kundgab, ist dabei unverkennbar“, stellt Rölleke fest.
Otto Flake hält in seinen Lebenserinnerungen („Es wird Abend“) über die Straßburger „Stürmer“ fest: „Jugend sucht zu Jungend zu finden. Das Primäre des Vorgangs bestand nicht darin, dass ein literarischer Zirkel sich bildete, sondern darin, dass junge Jahrgänge ihrem Bedürfnis, sich zu treffen und gegenseitig zu steigern, nun folgen konnte. … Den engeren Kreis bildeten die Unentwegten, die Tag und Nacht in Bewegung zueinander waren; sich in den über die ganze Stadt verstreuten Wohnungen abholten; ihren den Walkürenritt entnommenen Pfiff virtuos anwandten; mittags nach Tisch unweigerlich ins Wiener Café am Broglie eilten; am Nachmittag in die Fluss- und Riedlandschaften vor den Wällen ausbrachen oder Ateliers besuchten; am Abend im Theater saßen; danach wieder in jenem Café sich vereinten, bis zwei, drei Uhr früh.“
Stadlers Theatertagebuch aus dieser Zeit zeigt außerdem, dass er sich in Straßburg keine Wagner-Inszenierung entgehen ließ. Arno Holz und seine „Mittelachsenlyrik“, Stefan George und Hugo von Hofmannsthal sowie Paul Verlaine, der französische „poéte maudit“, markieren weitere Stufen in Stadlers Entwicklung. Zeugnis davon geben seine „Praeludien“ von 1904 mit der Unterteilung „Traumland“ und „Bilder und Gestalten“. Noch lässt sich kein ausgesprochen eigener Stil erkennen, noch dominieren umfangreiche literarische Kenntnisse Motive und Metaphern.
„Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht“
Also bleibt Stadler nicht stehen, sein Mantra wird das „Vorwärts“. Seine stete Entwicklung erklärt sich sicherlich unter anderem damit, dass er als bedeutender Literaturkritiker auch sein eigenes Werk nach strengen Maßstäben analysierte und aus gebotenem Abstand betrachten konnte. „Nichts war ihm ferner als Ästhetentum“, schrieb Edschmid. „Es kam, dass er strahlend von der Wanderbühne erzählte, die er besonders schätzte: einem wilden jungen Schwarm Kommilitonen und Studentinnen, die auf Leiterwagen dass Elsass durchbrachen und in Buntheit, Jugend und Kostümen den Bauern Sachen vorspielten. Es gab eine feine Schar wilder Jungens, die ihn mit knabenhafter Ritterlichkeit verehrten. An den Schützengräben aller Fronten, sie werden einen schweren Augenblick aufzucken vor seinem Tod.“
Immer deutlicher wird, dass der junge Dichter ein unbedingter Lebensbejaher ist, der der Kunst des Georgenkreises, „die den nährenden Mutterboden des Lebens immer mehr unter sich verloren hat, in der kein Ringen mehr ist und kein Drang, die, wählerisch und exklusiv, immer mehr in toten Formeln erstarrt“, etwas entgegenzusetzen trachtete. „Nicht Schwelgen in Stimmungen und Träumen“ machte für ihn nun das Leben aus, „sondern Arbeit, Kampf, Aktivität“, nichts Irdisches sei auszublenden, eine Trennung von Alltäglichem und Dichterischem dürfe es nicht geben. Seine eigenen Worte.
Unter diesen Vorzeichen liest sich das Gedicht „Der Aufbruch“ (dem sämtliche Zwischenüberschriften dieses Artikels entnommen sind) nicht ausschließlich wie eine Vorahnung des realen Kriegserlebnisses (wenngleich eine solche nicht zu vernachlässigen ist. Dichter sind es, denen wir etwas Seherisches zugestehen dürfen und müssen!), sondern als Gleichnis für eine im Aufbruch befindliche Lebens- und Geisteshaltung.
„Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken …
… würden unsere Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken“.
So endet das Gedicht.
Stadlers Kriegstagebuch blieb lange unveröffentlicht. Der Chronist, als der er hier auftritt, weiß zu differenzieren zwischen den einzelnen Stimmungen, die im August 1914 regierten, und erkennt wenig von der allgemeinen Begeisterung.: „Es ist Sonntag. Die Glocken leuten“, notiert er am 2. August 1914. „Der Hauptmann: Betet nur, das verhütet Blutvergießen.“ … Die Bevölkerung ist freundlich und verängstigt. Nur kein Krieg!“ Über den ihm zugetanen Hauptmann Langrock berichtet er: „Er sieht das Schreckliche, die Tragik diese Krieges. Keiner von den blinden Draufgängern, die im Krieg, die höchste Lust für den Soldaten sehen. Er hat eine Frau, zwei Kinder, ein Haus in Colmar. Daran denkt er mit Besorgnis.“
Dennoch wusste Stadler seine Pflicht zu erfüllen, gemäß der Charakterisierung, die Flake dem Weggefährten in jungen Jahren beigemessen hatte: „Den inneren Beunruhigungen und Spannungen erlaubte er nicht, auf seine äußere Existenz überzugreifen.“ Ottheinrich Westermann kommentiert Stadlers Kriegstagebuch in der Sammlung , Ernst Stadler. Dichtungen, Schriften, Briefe“: „An der Loyalität des Leutnant Stadler ist nicht zu zweifeln.“ Weder gesellte sich der Dichter zu den Kriegsgegnern im Umfeld der Zeitschrift „Aktion“, für die er früher gearbeitet hatte, noch schloss er sich René Schickele an, der schließlich 1915 in die Schweiz übersiedelte.
Westermann: „Wo alle Ordnungen wankten, wo sich menschliches Schicksal unter der totalen Bedrohung in einer anderen existenziellen Dimension vollzog, war der einzelne zu Bewährung aufgerufen: Ließ er sich forttreiben oder stellte er sich? Im Gedicht ,Der Aufbruch` stand der Ritt in die Schlacht für den Aufbruch zu neuen Ufern, Aufbruch von Menschen, die sich auch im Angesicht des Todes ,an Welt und Sonne satt und glühend trinken´ wollten. Die schwärmerische Metapher wurde zur harten Realität, durch die große Zuwendung zum Leben in seinen Höhen und Tiefen. Zuwendung zum Menschen, wie sie Stadlers dichterischen Weg von den schönheitstrunkenen ,Praeludien´ zur existenziellen Botschaft des ,Aufbruchs´ bezeichnet, sie bleibt.“
Bis zuletzt gab Ernst Stadler weder das Schöne noch das Leben preis. Damit setze er sich selbst ein ehrfurchtsgebietendes Denkmal.
Ernst Wilhelm Lotz, wie Stadler ein aufstrebender Expressionist, aber vom anderen Ende des Reiches, aus Kulm in Westpreußen, schrieb einst an sein Idol Ernst Stadler:
In mancher Stunde verwitterder Nacht,
bevor ich wusste von deinem durchblutenden Wesen,
habe ich dich erdacht und lebendig gemacht
und deine Bruderverse mir vorgelesen.
Und als ich dich sah, atmend da,
hell und zu glühenden Worten gekühlt,
wusste ich: Alles ist das! Alles lebt,
was man mit Wünschen erfüllt!
Lotz fiel am 26. September 1914. Er war 24 Jahre alt.
Amelie Winther
Prof. Dr. Ernst Maria Richard Stadler, Literaturkritiker, Germanist, Übersetzer, Dichter, fiel im Alter von 31 Jahren in Flandern. Anfang Oktober 1914 war er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden.
Quelle: National – Zeitung 09.05.2014 „Menschen“. Foto: National - Zeitung